Unter dem Titel „I was a German“ erschien Ernst Tollers autobiographischer Bericht „Eine Jugend in Deutschland“ bereits 1934, ein Jahr nach der deutschsprachigen Erstausgabe im Amsterdamer Exilverlag Querido, auch in englischer Übersetzung im Londoner Verlag John Lane The Bodley Head sowie in einer textidentischen Ausgabe bei William Morrow and Co. in New York. Diese Übersetzung des britischen Schriftstellers Edward Crankshaw, die etliche Male und in verschiedenen Verlagen nachgedruckt wurde, blieb für viele Jahrzehnte die einzige Übertragung ins Englische, während vor allem in den 1980er und 1990er Jahren zahlreiche Übersetzungen in andere Sprachen – etwa ins Französische, Italienische, Niederländische, Polnische, Schwedische, Spanische und Ungarische – erfolgten.[1] Eine Neuübersetzung des bis heute wohl meistgelesenen Textes von Toller blieb also lange ein Desiderat, – umso mehr, weil die bestehende englische Übersetzung auf etliche wichtige Passagen völlig verzichtet hat und inzwischen auch etwas veraltet war –, bis Christiane Schönfeld (Institutsleiterin des Department of German Studies und Professorin für DaF & deutschsprachige Literatur/Kultur am Mary Immaculate College in Limerick) die Initiative ergriff und im irischen Germanisten Eoin Bourke einen Übersetzer fand, der sich dem Text mit Begeisterung annahm. Bourke, der kurz zuvor als Institutsleiter und Professor für German Studies an der National University of Ireland in Galway in den Ruhestand getreten war, nahm das Projekt in Angriff, nachdem er seinen bahnbrechenden kommentierten Band mit Übersetzungen deutscher Irlandreisender, „Poor Green Erin“, fertiggestellt hatte, auf den die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung zu „A Youth in Germany“ hinweisen.[2]
Leider ist Eoin Bourke im Dezember 2017, nachdem er einen ersten Entwurf der Übersetzung von „Eine Jugend in Deutschland“ fertiggestellt hatte, verstorben. Seine Lebensgefährtin, die Schriftstellerin und Übersetzerin Eva Bourke, Mitglied der renommierten irischen Akademie der Künste Aosdána, führte seine Arbeit fort und trug – zusammen mit Lisa Marie Anderson (Professorin für Germanistik am Hunter College der City University of New York) als Mitherausgeberin – dazu bei, dass das Projekt verwirklicht werden konnte.
Doch nicht nur in Bezug auf die Übersetzung wurde mit dem 2024 im kanadischen Verlagshaus Broadview erschienen Band ein Desiderat erfüllt. Die ausführlichen Anmerkungen und umfangreichen Begleitmaterialien, die die Herausgeberinnen Christiane Schönfeld und Lisa Marie Anderson Tollers Text beifügten, sowie Eva Bourkes Originalübersetzungen der Gedichte Tollers, Werfels und Dehmels, machen „A Youth in Germany“ zur ersten kritischen, kontextualisierenden Ausgabe der Autobiographie Tollers in englischer Sprache. Dass die literarischen, politischen und biografischen Kontexte erstmals einem breiten, internationalen Publikum zugänglich gemacht werden und Tollers Werk, das die verheerenden Folgen von Krieg, Propaganda und Rechtsextremismus in so eindringlicher Weise beschreibt, ist gerade in jüngster Zeit besonders wichtig, wie die Herausgeberinnen in der Einleitung schreiben:
“Considering the recent rise in offenses and actions motivated by antisemitism and racism in the United States and Europe, and the challenges now facing democracies once again, A Youth in Germany deserves a wide audience. It is a literary work that traces the devastating consequences of war, propaganda, and far-right empowerment. It reflects on the significance of community and on the destructive impact of exclusionary practices, antisemitism, racism, nationalism, militarism, social inequality, and injustice, while highlighting the importance and challenges of political engagement and political agency.” (S. 22)
In „Eine Jugend in Deutschland“, das Toller zu Beginn seines Exils fertigstellte, berichtet er über seine Kindheit als Sohn jüdischer Kaufleute in Ostpreußen unter Kaiser Wilhelm II. und sein Studium in Frankreich, seinen Dienst als Kriegsfreiwilliger an der Westfront während des Ersten Weltkriegs und die anschließende Bekehrung zum Pazifismus, seinen Aktivismus in der deutschen Revolution von 1918/19, die führende Rolle in der kurzlebigen Bayerischen Räterepublik und den daran anschließenden Prozess wegen Hochverrats, der in Tollers Inhaftierung als politischer Gefangener der Weimarer Republik resultierte. Schönfeld und Anderson bringen die Relevanz des Textes auf den Punkt, wenn sie schreiben:
“This book is not only an autobiography, nor is it a conventional work of fiction. It is a book of memory, a stylized historical account, an uncommonly self-reflective text by a politically engaged German-Jewish author who experienced, first hand, war and revolution, imprisonment and exile, nationalism and antisemitism.” (S. 13)
Dass Tollers bemerkenswerte Autobiographie, die in diesem Jahr auch auf Deutsch zwei Neuausgaben erfährt[3], endlich in einer modernisierten Übersetzung ins Englische vorliegt, schafft die Voraussetzung für eine breite Rezeption von „Eine Jugend in Deutschland“ im englischsprachigen Raum. Bleibt zu hoffen, dass das Buch viele Leser*innen findet und der Text ihnen auch 90 Jahre nach seinem ersten Erscheinen „die Augen, die Sinne, die Herzen“[4] zu öffnen vermag.
Ernst Toller: A Youth in Germany. Übersetzt von Eoin und Eva Bourke. Herausgegeben von Christiane Schönfeld und Lisa Marie Anderson. Peterborough: Broadview, 2024.
300 S. ISBN: 9781554816170.
Weitere Informationen auf der Website des Verlags.
[1] Vgl. hierzu die Bibliographien von John M. Spalek und Michael Pilz:
John M. Spalek: Ernst Toller and his critics. A bibliography. Charlottesville: Univ. Press of Virginia 1968. Michael Pilz: Ernst-Toller-Bibliographie 1968-2012. Mit Nachträgen zu John M. Spalek: Ernst Toller and his critics (1968). Würzburg: Königshausen & Neumann 2016 (Schriften der Ernst-Toller-Gesellschaft, 7).
[2] Eoin Bourke (Hg.): “Poor green Erin”. German Travel Writers‘ Narratives on Ireland from before the 1798 Rising to after the Great Famine. Frankfurt/Main u. a.: Lang, 2011.
[3] Ernst Piper gab „Eine Jugend in Deutschland“ als Band 469 der „Anderen Bibliothek“ im Aufbau Verlag heraus. Eine historisch-kritische Ausgabe, die einem bisher unbekannten Urtext folgt und ihn den anderen Textfassungen vergleichend gegenüberstellt wird, herausgegeben von Peter Langemeyer, im Oktober 2024 im Wallstein Verlag erscheinen.
[4] Ernst Toller: Blick 1933. In: Eine Jugend in Deutschland. Bd. 3 der Sämtlichen Werke Tollers in 5 Bänden. Göttingen: Wallstein, 2015, S. 102.
Irene Zanol, 8.8.2024